Nichts glauben, was nicht nach den Prinzipien der Vernunft begründet ist und logisch erscheint

Ein neues Denk- und Kommunikationsmuster stellt seit einiger Zeit vor allem die Kritik dar. Alles wird der Kritik unterworfen. Der Leitsatz scheint zu sein: „Nichts glauben, was nicht nach den Prinzipien der Vernunft begründet ist und logisch erscheint.“ Kritik ist jederzeit möglich. Es blüht regelrecht eine Literaturkritik auf, die ihre Blüte zwei wesentlichen Faktoren zu verdanken hat: Herausbildung einer generell kritischen Meinung und der Aufwertung und Verbreitung von Literatur als Kommunikationsmedium. Dadurch entsteht ein wissenschaftliches Weltbild, das in einem Spannungsverhältnis zu alten Machtverhältnissen und Glaubensverhältnissen steht. Kritik bezieht alles und jeden in ihre Betrachtung mit ein.

 

 

Der Kritiker als Wolf, der die Taube, Sinnbild des schönen Werkes, zerfleddert. Das Mädchen steht für das überwiegend weibliche Lesepublikum.

 

 

Die Kritik hat aber auch negative Seiten, so dass sie gelegentlich auch zur Sucht wird, weil man erkannte, dass Kritik jederzeit möglich ist. Es entwickelt sich ein gewisser Zwang, eine Verpflichtung, Kritik zu äußern.

Kritik nimmt immer mehr zu, so dass wenig gesichertes Wissen und ebenso wenig Verhaltensformen Bestand haben. Dieser fortschreitende Prozess der Kritik bringt daher nach anfänglichen Fortschritten auf allen Wissensgebieten und in allen gesellschaftlichen Bereichen auch Konfusion und Krisenbewusstsein hervor.

Eine erfreuliche Entwicklung ist aber, dass die bürgerliche Öffentlichkeit Raum schafft, ein so genanntes Forum, dafür, dass alle, die interessiert daran sind, ihre Meinung zu äußern, dies gleichberechtigt tun können. Dieses Forum dient der Selbstdarstellung, Interessenvertretung und Bewusstseinsbildung der Öffentlichkeit. Dieses Wirkungsfeld verschafft der Kritik eine Reichweite, in der sie es mit der alten Tradition und den konservativen Machthabern aufnehmen kann.

Als technische Voraussetzung für den kritischen Gedankenaustausch gibt es eine Reihe neuer Medien; die Zahl der Zeitschriften wächst, die Textgattung der Rezension blüht. Im Bildungssystem bewirkt die Kritik eine Beschleunigung der Modernisierung. Das Prinzip der Kritik verwandelte das Literatursystem im Laufe der Jahre von einem geschlossenen sozialen Gebilde in ein offenes, öffentlichkeitsorientiertes Handlungsfeld1.  Es entwickelte sich ein Kampf zwischen konservativen Kräften, als Beispiel sei Gottsched zu nennen, der durch Regeln einen einmal erreichten Entwicklungstand der Literatur festschreiben wollte, und den so genannten Selbstdenkern, die in kurzer Zeit immer neue eigene Einfälle oder Argumente gegen die alte Tradition vorbrachten.

Es scheint, als ob Kritik immer weiter auf ein größeres Publikum ziele. Kritik gehört als vermittelnde Instanz zwischen Autor und Lesern zur öffentlichen Kommunikation. Sie schafft Orientierung über Neuerscheinungen, literarische Trends, das Profil von Verlagen oder Zeitschriften und über die Autoren. Durch die Auswahl rezensionswürdiger Bücher fördert. sie den Dialog in der Öffentlichkeit und die Reflexion über Literatur2.

 

Carolin Hammad

Anmerkungen der Herausgeber des Nachdrucks:

1 vgl. Baasner/Reichard, Kritik.- In: Epochen der deutschen Literatur. Aufklärung und Empfindsamkeit, Suttgart 2000 (CD-Rom)

2 http://staff-www.uni-marburg.de/~anz/Literaturkritik.html